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Tag der Heimat 2020 – in diesem Jahr anders

Meine lieben Landsleute, 
sehr geehrte Damen und Herren,

wir werden 2020 als denkwürdiges Jahr, vielleicht auch schlicht als das „Corona-Jahr“ in Erinnerung behalten.
Ein Jahr, in dem unser gesellschaftliches Leben über Monate zum Stillstand kam und enorme Herausforderungen an jede und jeden von uns gestellt hat.
Die mit der Corona-Pandemie einher gehenden Einschränkungen haben große wirtschaftliche aber auch gesellschaftliche Folgen, deren Ausmaß uns über Jahre beschäftigen wird. 
Gerade für ältere Menschen ist diese Pandemie schwer zu ertragen. Sie gehören zu der sogenannten „Risikogruppe“. In den Alten- und Pflegeeinrichtungen wurden drastische Maßnahmen getroffen, um die Bewohnerinnen und Bewohner vor einer Ansteckung zu schützen. Sehr viele alte Menschen leiden unter der sozialen Isolation. Doch der Gesundheitsschutz muss in dieser schwierigen Zeit oberste Priorität haben. Masseninfektionen würden nicht nur unser Gesundheitssystem überfordern, sondern auch insbesondere im Kreis der Alten viele Opfer fordern. Ich erinnere an dieser Stelle an die schrecklichen Berichte und Bilder aus Norditalien, Spanien und Großbritannien, um nur einige der stark betroffenen Länder zu nennen.

Als Landesvorsitzende des BdV Niedersachsen habe ich lange überlegt, wie der „Tag der Heimat 2020“ aussehen könnte. Ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht, den „Tag der Heimat“ in diesem Jahr nicht wie üblich stattfinden zu lassen. Die große Verantwortung, die bei der Durchführung einer solchen Veranstaltung auf meinen Schultern liegt, lässt mit Blick auf den üblichen Teilnehmerkreis keine andere Entscheidung zu.
Und doch ist es mir sehr wichtig, unseren Gedenktag auf andere Weise mit Ihnen zu begehen. 
In einer Sonderausgabe des BdV Aktuell, die dem diesjährigen „Tag der Heimat“ gewidmet ist, möchte ich gemeinsam mit Ihnen diesen wichtigen Tag zwar räumlich getrennt, doch im Herzen eng verbunden, würdigen.
Lassen Sie uns in diesen Tagen die Erinnerung an den Verlust der Heimat sowie an Flucht, Vertreibung und Neubeginn miteinander teilen. 
Lassen Sie uns gemeinsam um die Opfer des Krieges, der Vertreibung und Deportation trauern. Lassen Sie uns an die alte Heimat denken, mit der wir uns ein Leben lang verbunden fühlen. 
Wir wollen die Zuversicht teilen, dass dieser Teil unserer Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. 
Wir wollen aber auch mahnen, damit die Erfahrungen aus der Vergangenheit keine neuen Wurzeln fassen können. Wir denken auch an unsere Heimatverbliebenen, die wir stets gerne bei unseren Bildungs- und Begegnungsreisen besuchen. Leider müssen wir auch auf diese so wichtigen Begegnungen in diesem Jahr verzichten.
Im Mai dieses Jahres blickten wir auf das Kriegsende vor 75 Jahren zurück. Das Ende dieses grausamen und menschenverachtenden Krieges bedeutete leider nicht für alle Deutschen Freiheit und Gewaltlosigkeit. In Ostmitteleuropa, Ost- und Südosteuropa wurden rund 15 Millionen Deutsche ihrer Heimat beraubt. Das Trauma, ausgelöst durch Flucht, Vertreibung und Deportation hat sich tief in die Seelen der Erlebnisgeneration gebrannt. Mehr als zwei Millionen Menschen kamen dabei ums Leben oder werden seither vermisst. Den deutschen Flüchtlingen, Vertriebenen und Spätaussiedlern – aber auch ihren Nachkommen fällt seit 75 Jahren die Aufgabe zu, die allgemeine Freude über das Ende des Krieges mit maßvoll gesetzten Worten um einen gern verschwiegenen Aspekt zu ergänzen: nämlich das Leid und das Unrecht, dass den Deutschen im Osten widerfuhr. 
Jede nur mögliche Rechtfertigung für diesen Teil unserer Geschichte zeigt, dass Flucht und Vertreibung damals Unrecht waren und es bis heute sind, ganz gleich, wo sie geschehen. 
In 2020 steht unser Tag der Heimat unter dem Leitwort „70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“. Am 05. August 1950 wurde die Charta unterzeichnet und am Folgetag proklamiert. Es soll uns Deutsche aus dem Osten, aber noch viel mehr die bundesdeutsche Öffentlichkeit dazu anregen, dieses Dokument zu lesen, darüber nachzudenken und ihm einen angemessenen und damit würdigen Platz in der Geschichte der Bundesrepublik zuzuweisen.
Die meisten von Ihnen werden den Text der Charta kennen, obwohl sie in öffentlichen Reden oft nur verkürzt und auf einige Aussagen beschränkt zitiert wird. Eigentlich gehört ihr Wortlaut in die Schulbücher der einschlägigen Fächer wie Geschichte, Sozialkunde, Geographie usw. .
Ich möchte einige zentrale Sätze aus der Charta hervorheben, die hohe Anschauungskraft zur damals vorherrschenden Situation im Spannungsfeld zwischen Ost und West haben und gleichzeitig die Lage der Vertriebenen und deren Anspruch an sich selbst darlegen. Unsere Charta beginnt nicht mit Forderungen, sondern mit Selbstverpflichtungen: 

•    „Wir Heimatvertriebene verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.
•    Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
•    Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.“

Nach diesen eindringlichen Selbstverpflichtungen und einem Bekenntnis zu Europa wird aus dem eigenen Schicksal heraus das Grundrecht auf die Heimat für alle Menschen eingefordert:
„Wir fühlen uns berufen zu verlangen, dass das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.“

Und geradezu prophetisch schließt die Charta: „Die Völker müssen erkennen, dass das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert. Wir rufen Völker
und Menschen auf die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.“

Diesen Aufruf müsste man täglich wiederholen. Denn bis in unsere Tage hinein werden Menschen auf der Welt aus ihrer Heimat vertrieben.

Der Einsatz für Menschenrechte, für Verständigung, aber auch für die lebendige Heimat, für das Bleiberecht, für Erinnerungskultur und Versöhnung hat in unserem Verband seit vielen Jahren Tradition. Der BdV steht seit über 60 Jahren auf den Grundfesten der Charta der Heimatvertriebenen. Wir fordern nach wie vor die kodifizierte Verankerung eines weltweiten Vertreibungsverbots und damit die Sanktionierbarkeit von Vertreibungen. Was die Väter und Mütter der Charta 1950 noch nicht wussten, ist uns heute um so mehr Verpflichtung: dass das kulturelle Erbe der Heimatvertriebenen in Gefahr ist. Darum steht dieser Punkt im Bund der Vertriebenen in seiner Arbeitsagenda weit oben. Wir sind bestrebt, Wahrhaftigkeit als conditio sine qua non einer ehrlichen und empathischen Erinnerungskultur durchzusetzen. Wie schön wäre es, wenn unser steter verständigungspolitischer Dialog mit den Nachbarn im Osten auch diesbezüglich mehr und mehr Früchte tragen würde. In einem grenzüberschreitenden Verständnis sind die deutschen Minderheiten in den mittel- und osteuropäischen Ländern unsere Brüder und Schwestern. Vielleicht sind gerade sie es, die vor Ort in unseren Nachbarländern einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur den Boden bereiten. Wir im Bund der Vertriebenen sollten sie noch stärker als bisher in unsere Arbeit und unsere Aktivitäten einbinden – ganz in dem Bewusstsein, dass wir für ein und dieselbe Sache einstehen!

Für die kommenden Monate wünsche ich Ihnen beste Gesundheit. Bleiben Sie achtsam und zuversichtlich, dass wir diese schwierige Zeit gemeinsam überstehen. 
Ich freue mich auf die Zeit, in der wir uns wieder persönlich begegnen werden.

Mit heimatlichen Grüßen
Ihre Editha Westmann

Stimmen zur Charta


Die Charta der Heimatvertriebenen wird in diesem Jahr 70 – aber sie ist nicht „in die Jahre gekommen“. Sie ist ein Mahnmal der Verständigungsbereitschaft mit dem Ziel, Grenzen zu überwinden und zum Wohle des Gemeinwesens beizutragen. Sie ist eine Willensbekundung zum Frieden und steht diametral entgegengesetzt zum selbst erlittenen Leid. 
Und sie fordert – ebenfalls bis heute aktuell – das Recht auf die Heimat, den Schutz vor Vertreibungen und ethnischen Säuberungen als fundamentale Menschenrechte und Grundwerte, die der Friedens- und Zukunftssicherung dienen.

Darauf sind wir im Bund der Vertriebenen stolz – nur ausruhen dürfen wir uns darauf nicht!

Die Reihe der Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, die den bleibenden Wert der Charta im Laufe der letzten 7 Jahrzehnte hervorgehoben haben, ist ellenlang. Ein paar der Stimmen aus neuerer Zeit will ich zitieren und ich beginne, dem Anlass entsprechend, mit dem baden-württembergischen
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. 
Zitat:
„Als bedeutendstes Zeugnis für den Einsatz der Vertriebenen für ein friedliches Miteinander und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gilt die am 5. August 1950 unterzeichnete Charta der Heimatvertriebenen. Die Charta ist ein Bekenntnis zur Schaffung eines freien, vereinigten Europas und
gleichzeitig eine Erklärung des Verzichts auf Rache und Vergeltung.“

Ähnlich hat sich Bundespräsident Frank Walter Steinmeier geäußert:
„Als Bundepräsident möchte ich heute meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen: für die Charta, die vor siebzig Jahren formuliert wurde – und für den von ihr inspirierten und geprägten Geist, der viele Heimatvertriebene in den ganzen Jahren seither geleitet hat. Dass wir in Europa
heute in Frieden leben: das ist auch das Verdienst der Charta der Heimatvertriebenen,
und das Ergebnis eines langen Weges von Annäherung, Verständigung und Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern. Dafür können und müssen wir alle in Deutschland dankbar sein.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel, deren Bekenntnis zu den deutschen Heimatvertriebenen
sich durch ihre gesamte Amtszeit zieht, hat wiederholte Male die Charta gewürdigt. Zum 70. Geburtstag der Charta gratulierte sie mit folgenden Worten:
„Vor 75 Jahren endeten der von Deutschland im Nationalsozialismus entfesselte Zweite Weltkrieg und der Zivilisationsbruch der Shoa. Nach dem Kriegsende verloren zugleich aber auch viele Menschen ihre Heimat und erlitten Flucht, Vertreibung, Willkür und Gewalt. Aus dieser Erfahrung erwuchs die Erkenntnis, dass nur Verständigung und Versöhnung den Weg hin zu einem friedlichen und geeinten Europa bereiten könnten. Besonderer Ausdruck dessen ist die ‚Charta der deutschen Heimatvertriebenen‘ von 1950. Sie ist weit mehr als ein Dokument der Zeitgeschichte.
Diese Charta gilt völlig zu Recht als Grundgesetz der Heimatvertriebenen, formuliert sie doch umfassende Erwartungen an eine gerechte und gleiche Behandlung aller Menschen in Deutschland und Europa. Daher sind ‚70 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen‘ ein Jubiläum, zu dem ich
von Herzen gratuliere.“